Die Einschiffung soll um 13:00 Uhr in Amsterdam erfolgen. Wir, eine Gruppe von acht Radlerinnen und Radlern aus Dormagen, sind dank des Bustransportes von LKS-Reisen frühzeitig am Anlegeplatz unseres Schiffes am Ijhaven. Hier im Hafengebiet sind in den letzten Jahren viele neue Wohnquartiere entstanden. Das Café an der Veemkade, das wir zur Überbrückung der Zeit aufsuchen, scheint Treffpunkt für junge Familien und Studenten zu sein. Hamburger sind in diesem Milieu out, statt dessen liegen Bagels im Trend, simpel ausgedrückt sind das Brötchen mit Loch in der Mitte. Man muss sich für einen Belag entscheiden und dann das Bagel dazu aussuchen. Die junge Bedienung ist geduldig mit den unentschlossenen deutschen Gästen.
Als wir kurze Zeit später wegen einem Foto vor unserem Schiff MS Magnifique II posieren, kommt ein freundlicher, groß gewachsener Holländer auf uns zu. Er stellt sich als Paul vor und ist unser Reiseleiter. Die Räder mit dem aus Fahrradtaschen bestehenden Gepäck sind mit zupackender Hilfe schnell an Bord verstaut.
Um kurz nach 14 Uhr legt die Magnifique II ab, es geht in den Amsterdam-Rhein-Kanal Richtung Süden. Unterwegs Pappel gesäumte Wege, am Kanal entlang fahrende Radfahrer, ab und zu ein Kirchturm, ab und zu eine Mühle. Holland lässt grüßen. An Utrecht vorbei, von der man hauptsächlich Hafen- und Verwaltungsgebäude sieht, nach Vianen. Dieses Städtchen liegt am Lek und war in alter Zeit ein Zentrum des Pferdehandels. Hier ankert unser Schiff über Nacht im Merwede-Kanal, nicht weit entfernt vom Zentrum. Paul empfiehlt einen Abendspaziergang durch die Stadt. Wir sind angetan vom illuminierten Park, Lichterketten und Brückenbogen spiegeln sich im Wassergraben. Am alten Stadttor stoßen wir auf den Knotenpunkt, von wo aus am nächsten Morgen die erste Etappe der Radtour beginnt.
Nach dem Abendessen informiert Paul über den Ablauf des nächsten Tages, das macht er auf Englisch, da eine Gruppe Amerikaner ebenfalls mitreist. Auch verteilt er Zettel mit den Knotenpunkten, die auf der Radtour am folgenden Tag angefahren werden. Eine zusätzliche Information bietet eine Wandtafel mit Landkarte. Die wird jeden Tag aktualisiert, so weiß man immer, durch welche Gegend die Radstrecken verlaufen und auf welchem Wasserweg das Schiff fährt.
Am nächsten Morgen sitzen wir um 9 Uhr auf den Rädern und verlassen Vianen über eine Autobahnbrücke, um auf die andere Seite des Lek zu kommen. Der Lek ist eine Abzweigung des Rheins, er ähnelt diesem mit seinen flachen Buchten und dem (geringeren) Schiffsverkehr. Wir fahren durch grüne Polderlandschaft, von glänzenden Wassergräben durchzogen, vorbei an bunten Gärten und kleinen Deichhäusern. Schöner kann eine Radroute nicht sein. Ach hätte man doch Zeit, die Birnen am Wegesrand aufzusammeln! Schoonhoven mit dem altholländischen Zentrum eignet sich gut für eine Mittagsrast. Danach überqueren wir wieder den Lek, diesmal mit einer Fähre und fahren in den Alblasserwaard, einer Polderlandschaft, bekannt für ihre vielen Windmühlen. Die Räder rollen und rollen, rechts und links saftige Wiesen, schwarzweiße Kühe. Da ist Qualitätsmilch garantiert: Grünfutter und Bewegung den ganzen Tag! An einem Bauernhof ein einladendes Schild „Koffie und WC“, das wäre eine willkommene Unterbrechung. Aber am Sonntag gibt es keinen Kaffee, wie uns die freundliche Bauersfrau mitteilt, die Toilette dürfen wir aber trotzdem benutzen. Bald tauchen die Windmühlen von Kinderdijk auf. Eine Ansammlung von über 15 Windmühlen ist so einmalig, dass Kinderdijk Weltkulturerbe ist. Man kann sie mieten und als Wohnung nutzen. Der holländische Staat kann nicht aus jeder Mühle ein Museum machen, hat aber ein Interesse daran, sie in einem guten Zustand zu erhalten. Darum auch vor manchen Mühlen der Hinweis „privat“.
In Alblasserdam warten wir auf den Wasserbus, der uns nach Dordrecht bringt. Der Wasserbus ist ein Katamaran, fährt Haltestellen am Wasser an und transportiert in schneller Fahrt Fußgänger und Radfahrer, Fahrradmitnahme kostet nichts. Es wird ziemlich voll. Die Kassiererin kommt kaum zwischen den vielen Rädern durch, aber die Stimmung ist entspannt. Dass bei uns nicht kassiert wird, sollen wir laut Paul als Geschenk des Königs ansehen.
Hier fällt mir wieder die lockere Art der Holländer auf. Sie leben mit dem Wasser, am Wasser und auf dem Wasser. Vielleicht liegt es daran.
In Dordrecht liegt die Magnifique II im alten Hafen. Nach dem Abendessen ist ein kleiner Stadtrundgang angesagt. Da es schon dunkel ist und in Holland die Gardinen nicht zugezogen werden, wirft man gerne (diskret) einen Blick in erleuchtete Fenster. Man sieht hohe Decken und dunkles Eichenholz, hier wohnten keine einfachen Fischersleut, sondern wohlhabende Kaufleute. Dordrecht ist ein Knotenpunkt der Schifffahrt. Irgendwo steht man immer am Wasser, entweder an einer Gracht, einer Hafeneinfahrt oder einem der vielen Nebenflüsse von Rhein, Maas oder Lek.
Während wir im Aufenthaltsraum mit den großen Fenstern frühstücken, fahren wir mit dem Schiff bis Willemstad, vorbei am Industriegebiet Moerdijk. Wegen Nebel darf die Magnifique II in Willemstad noch nicht in den Vorhafen einfahren, so verbringen wir die Zwangspause an Deck und sehen dem Betrieb auf dem Wasser zu.
Eine fahle Morgensonne und die Silhouette dieser alten Festungsstadt sorgen für eine besondere Atmosphäre. Wir halten auf den ersten Knotenpunkt zu, aber vorher drehen wir noch eine Ehrenrunde durch das Städtchen und fahren dann durch fruchtbares Ackerland Richtung Dinteloord. Ein Dorf namens Zevenhuizen wird durchfahren. Am Knotenpunkt 46 müssen wir über das Steenbergse Vliet, einem kleinen Wasserlauf, der vom Hollands Diep (oder ist es das Volkerrak?) kommt. Es gibt eine originelle Brückenkonstruktion, da drückt man einen Knopf, und die kleine Brücke schließt sich. Eine weitere Attraktion ist ein 1944er Bunker, auf den eine moderne steile Treppe aus hellem Holz hinaufführt zu einer Aussichtsplattform.
Die heutige Radtour endet in Tholen am Schelde-Rhein-Kanal. Dort wartet unser Schiff am Kai. Nachdem alle Räder an Deck sind, schippern wir direkt weiter nach Antwerpen und müssen durch die imposante Kreekrakschleuse. Weitere drei Frachtschiffe passen noch hinein. Vor Augen habe ich noch den grünen Bug eines Schiffes, bis auf Tuchfühlung kam es an die Magnifique II heran. Später war es noch eine ganze Zeit dicht hinter uns, es sah aus, als ob es uns verfolgen wurde, bis allmählich der Abstand größer wurde.
Während des Abendessens gleitet das Hafenpanorama von Antwerpen an uns vorbei. Die Anlegestelle liegt ziemlich zentral, von hier aus startet am nächsten Morgen die Radtour. Unsere 8erGruppe ist bis jetzt immer eigenständig gefahren, aber für die Strecke zum MAS Museum (Museum aan de Stroom) schließen wir uns Paul an. Moderne Architektur aus rotem Sandstein und gewölbtem Glas. In der Liebfrauenkathedrale wollen wir uns die Madonna im Designerkleid ansehen. Eine bekannte belgische Modedesignerin sollte im Auftrag der Stadt die Figur aus dem 15. Jahrhundert neu einkleiden in Anlehnung an die Modestadt Antwerpen. Recherchen zu Hause ergeben später, dass diese Madonna in der Kirche Sint-Andries steht und nicht in der Kathedrale. Aber enttäuscht sind wir nicht, denn die großflächigen Gemäldetafeln von Peter Paul Rubens lohnen ohnehin den Besuch.
Um auf die andere Seite der Schelde zu kommen, empfiehlt Paul die Benutzung des Sint-Annatunnels. Dieser Tunnel aus den 30er Jahren ist eine Attraktion, nur für Fußgänger und Radfahrer bestimmt. In die großen Lastenaufzüge passen mehrere Räder. Man sieht das Ende des schnurgeraden Tunnels nicht, wenn man losfährt. Nun hatten wir das Pech, dass auf der anderen Seite der Aufzug defekt war, so mussten wir die Räder auf der hölzernen Rolltreppe nach oben bugsieren. Bloß nicht rückwärts nach unten schauen! Ich seh´ mich schon mitsamt Rad die Rolltreppe runterstürzen. Aber es geht alles gut. Aus der Stadt heraus führt die Route durch weitläufiges Gewerbe- und Hafengebiet. Entspannter wird es wieder, als der Streckenverlauf durch Wiesenlandschaft mit Maisfeldern führt, denn letztere sind bei Radlern beliebt für eine „technische Pause“. Im kleinen Ort Bazel gibt es das schöne Gartenrestaurant De Duiventoren, wo es sich unter hohen Bäumen gut rasten lässt. Sint Amands, unser Tagesziel, ist ein kleiner Ort an der Schelde, etliche Häuser stehen leer, aber es gibt zwei feine Bäckereien mit belgischer Confiserie. Bei unserer Ankunft herrscht Ebbe, grauer Schlick und breite Schilfgürtel an beiden Ufern. Über eine Gangway erreichen wir den Anlegesteg, wo bereits die Magnifique II liegt.
Am nächsten Morgen sind wir kurz nach 9 Uhr startklar. Es ist schon wieder Ebbe, grauer Schlick, grauer Himmel, im Vergleich zu den vorherigen Tagen auch kalt. Die Radstrecke führt über den Deich an der Schelde. Beim Ort Appels soll uns eine kleine Fähre über die Schelde bringen, weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Plötzlich taucht ein junger Mann auf einem Fahrrad auf, unser Fährmann. Die Überfahrt ist frei, aber wir werfen gerne einen Obolus ins Töpfchen. Ostflandern ist als Landschaft unspektakulär, viel Schilf, hier und da ein Reetdach. Für eine Mittagseinkehr wurde der Ort Laarne empfohlen mit einem Schloss als Sehenswürdigkeit. Dort halten wir nur für einen Fotostopp, dafür gehen wir in die belgische Kneipe hinein, denn uns ist nach Aufwärmen zumute. Eine Frittenbude liegt gleich nebenan, die Gelegenheit, endlich mal belgische Fritten zu probieren.
Je mehr man sich Gent nähert, desto mehr Brücken und Autoverkehr gibt es. Gent ist Universitätsstadt, daher auch die vielen jungen Leute, die uns auf Rädern entgegenkommen oder uns flott überholen. Diese Straße ist als Fahrradstraße gekennzeichnet, hier sind Autofahrer nur geduldet. Eng wird es an der Sint-Baafs-Kathedrale, Straßenbahnschienen, Fußgänger und immer wieder Radfahrer. In der Kathedrale ist der berühmte Genter Altar z. Zt. wegen Restaurierung ausgelagert, staunend steht man aber auch vor der monumentalen Kanzel aus schwarzer Eiche und weißem Marmor. Aus dem Zentrum heraus führt wieder die viel genutzte Fahrradstraße Richtung Lovendegem, dort liegt die Magnifique II am Gent-Brügge-Kanal.
Eine herbstliche Sonne am nächsten Morgen macht Laune auf Fahrrad fahren und Brügge als Tagesziel ins Auge zu fassen. Die Route führt am Schloss Lovendegem vorbei durch ländliche Gemeinden mit hübschen Villen. Später stoßen wir wieder auf den Gent-Brügge-Kanal. Ab und zu ein Lastkahn und, tatsächlich, da vorne fährt die Magnifique II! Mit Winken und Klingeln fahren wir an unserem schwimmenden Hotel vorbei. Manchmal führt die Route wegen Baustellen vom Kanal weg, doch es gibt zuverlässige Umleitungswegweiser für Radfahrer.
Am Kanal lässt sich gut radeln. An einem Pappelwäldchen entlang des Kanals, steht eine Reihe von Bunkern aus dem 2. Weltkrieg. Heutzutage werden sie friedlich genutzt, nämlich als Überwinterungsplatz für Fledermäuse. Kurze Zeit später kommen wir durch den Ort Moerbrugge, wo an der Brücke ein großes rostiges Gebilde steht: ein Monument zur Erinnerung an kanadische und deutsche Soldaten, die hier bei Kämpfen im September 1944 gefallen sind.
Am Stadtrand von Brügge herrscht viel Verkehr, aber separate Radwege mit Knotenpunktschildern lassen uns ohne nennenswerte Schwierigkeiten den Weg zu unserem Schiff finden, dessen Anlegeplatz zehn Minuten vom Begijnenhof liegt, einem der Plätze in Brügge, wo alle Touristen hinwollen, so auch wir. Rolf lotst uns durch die belebten Straßen. In einem Café mit Alt-Brügge-Ambiente nehmen wir Platz an einem langen rustikalen Tisch. Von hier kann man auch ab und zu einen Blick auf die Räder werfen.
Am letzten Tag steht eine Rundtour von Brügge zur Nordsee und wieder zurück auf dem Programm. Aus der Stadt heraus führt der Radweg durch den Stadtpark, an einer Zugbrücke muss gewartet werden, denn Schiffe haben immer Vorrang. Dann durch Polderlandschaft mit kleinen Gehöften Richtung Damme. Der Ort hat ein putziges gotisches Rathaus, davor einen großen freien Platz, wie man es oft in flandrischen Städten sieht. Wir durchfahren den Ort Dudzele. Dort fällt an der Straße eine große Fotografie auf, die die Befreiung durch kanadische Soldaten im September 1944 dokumentiert. Ein mächtiger Kirchturm kündigt schon von weitem Lissewege an, das als weißes Dorf bekannt ist. Dann sieht man in der Ferne schon die Hochhäuser des Seebades Blankenberge. Eine lange Strandpromenade, ein Restaurant reiht sich an das andere. Wir suchen einen Pavillon auf mit Platz unterm Heizstrahler und Blick auf weiten hellen Nordseestrand. Ein freundlicher Kellner mit indischem Migrationshintergrund serviert lecker Bierchen und lecker Koffietafel.
Landeinwärts führt die Route durch landwirtschaftlich genutzte Polder. Der Boden muss fruchtbar für Zwiebelanbau sein, denn es kommen uns auf schmalem Wirtschaftsweg Ungetüme von Traktoren entgegen, hochbeladen mit Zwiebeln. Bald darauf erreichen wir wieder Brügge Stadtgebiet und fahren durch stille Wohnstraßen mit schönen älteren Stadthäusern. Touristen sieht man hier keine. Dafür geraten wir unversehens in Massen von Schülern, die nach Schulschluss alle zum Bahnhof wollen.
Den Bus für die Heimfahrt am folgenden Tag erwarten wir gegen halb zwei. Zu packen gibt es nicht viel, also bleibt noch Zeit für einen Spaziergang entlang der Grachten. Einen Laden halten wir auf den ersten Blick für einen Trödelladen, aber beim näheren Hinsehen entpuppt sich das, was wie altes Werkzeug aussieht, als Schokolade. Ein tolles Mitbringsel für zu Hause ist gefunden.
Die Reise war ein Erlebnis. Die Kombination von auf dem Wasser und auf dem Land sich fortbewegen ist etwas Besonderes. Wir waren angetan von der qualitäts- und geschmackvollen Ausstattung des Schiffes. Auch herrschte eine gute Atmosphäre dank der fleißigen und zuvorkommenden fünfköpfigen Crew.
Wir sind die Tagesetappen immer auf eigene Faust gefahren, da wir das Knotenpunktsystem, so wie es in den Niederlanden üblich ist, „erfahren“ wollten. Es wird wohl noch einige Jahre dauern, bis es auch bei uns in Nordrhein-Westfalen so flächendeckend eingeführt ist.
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